Systemrelevant oder lebensrelevant?

2020 ist ein Haselnussjahr. Immer wieder lese ich in unserem Garten die Nüsse auf und staune, welche Fülle da vorhanden ist. Eine systemrelvante Tätigkeit ist das nicht. Bedeutungslos für das Bruttosozialprodukt. Aber lebensrelevant oder besser gesagt lebensqualitätsrelevant finde ich sie schon: Ich halte mich an der frischen Luft auf, ich gehe durch den Garten, ich bücke mich, richte mich wieder auf, atme tief ein und aus, sammle die Nüsse ein, schaue in die Wolken, spüre den leichten Wind im Gesicht und höre die Schafe blöken. Ich bin zufrieden und dankbar.

Doch Nüsse sammeln, das ist etwas für Rentner und kleine Kinder. Für die vom Hamsterrad Dispensierten. Wichtig dagegen ist zum Beispiel der Profisport. Erwachsene Männer rennen auf Kunstrasen in grossen Stadien hinter einem Ball her (Fussball), schlanke Frauen werfen sich für einen Ball in den Sand (Beach Volleyball), Männer rasen mit ihren Boliden stundenlang und rundenlang bis ins Ziel (Formel Autorennen) und auf der Kunstschneepiste rasen Mann und Frau zu Tal im Kampf und Krampf um Hundertstelsekunden (Skiweltcup). Millionenschwer steigern die Sportler und Sportlerinnen das Bruttosozialprodukt. Ja, ja der Sport ist systemrelevant.

Vieles von dieser Systemrelevanz ist jedoch nicht lebensrelevant. Brot und Spiele eben Find phone , wie damals vor 2000 Jahren. Und auch vor 2000 Jahren war da die Bergpredigt des Mannes von Nazareth, diese nie systemrelevant gewordene Lehre – in 2000 Jahren Christentum nicht. Lebensrelevant ist sie aber noch immer.

Vielleicht beginnen wir jetzt – in der zweiten Coronawelle – den Unterschied zwischen Systemrelevanz und Lebensrelevanz allmählich zu begreifen und lernen die Kluft zwischen ihnen zu verkleinern. Denn vieles, was zu unserer Lebensqualität beiträgt, kann man weder kaufen, mieten, messen, wägen. Der Mann von Nazareth und viele Weise aus zahlreichen Kulturen, Religionen und spirituellen Traditionen in verschiedenen Eopchen haben davon gesprochen: vom Mysterium des Lebens und – metaphorisch gesprochen – von der banalen Notwendigkeit, wieder mehr Haselnüsse aufzulesen, und zwar in jeder Lebensphase. Denn ohne die Fähigkeit zum Sein und Dankbar sein, werden uns die Wellen fortspülen, welche Namen auch immer wir ihnen geben mögen.