Die Schule der Achtsamkeit und der Selbsterkenntnis

Wir sind versorgt. Versorgt mit den Gütern des täglichen Bedarfs. Viele Hände ermöglichen dies. Viele Menschen arbeiten viel. Doch wer jetzt in den Spitälern Corona-Erkrankte pflegt, arbeitet am Rand der Erschöpfung und manchmal wohl auch am Rande der Verzweiflung. Für Reflexion und Selbsterkenntnis ist jetzt wahrscheinlich wenig Raum. Und dann sind da noch wir andern, die wir draussen sind, vielleicht sogar auf einer surreal anmutenden Insel mit Sonnenschein und blauem Himmel, wir andern, haben eine andere Aufgabe. Das Leben hat uns soeben eine Einladung zum Besuch der Schule der Achtsamkeit und der Selbsterkenntnis geschickt.

Achtsamkeit. Seit einigen Jahren findet die vom amerikanischen Psychiater und Zen-Buddhisten Jon Kabat Zinn entwickelte Achtsamkeitsmethode zunehmend gesellschaftliche Verbreitung und Akzeptanz. Sie bekommt in der aktuellen Situation zusätzliche Bedeutung, denn unser Leben wird zur Zeit massiv umgekrempelt. Die Sicherheiten schwinden und die Herausforderung ist es, wach, flexibel und klug Tag für Tag zu leben. Wir sind gefordert, täglich in der Schule des Lebens zu lernen. Dabei spielt Achtsamkeit eine Rolle. Was ist damit gemeint?

Mit den Worten von Jon Kabat Zinn: „Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Art und Weise aufmerksam zu sein, bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit, sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren. Sie macht uns die Tatsache bewusst, dass unser Leben aus einer Folge von Augenblicken besteht. Wenn wir in vielen dieser Augenblicke nicht gegenwärtig sind, so übersehen wir nicht nur das, was in unserem Leben am wertvollsten ist, sondern wir erkennen auch nicht den Reichtum und die Tiefe unserer Möglichkeiten zu wachsen und uns zu verändern…Achtsamkeit ist eine einfache und zugleich hochwirksame Methode, uns wieder in den Fluss des Lebens zu integrieren, uns wieder mit unserer Weisheit und Vitalität in Berührung zu bringen.“

Für den indischen Weisheitslehrer Jiddu Krishnamurti (1895-1986) war klar:
„Achtsamkeit ist nicht das gleiche wie Konzentration. Konzentration ist Ausschliessung. Achtsamkeit, die umfassendes Gewahrsein ist, schliesst nichts aus.“

Dieses umfassende Gewahrsein ist mit Tempo nicht vereinbar. Achtsamkeit verlangt tendenziell nach Langsamkeit, zumindest nach situativ angepasster Geschwindigkeit. Und genau dies geschieht zur Zeit mit dem gesellschaftlichen Leben. Das gewohnheitsmässige Rennen, sei es zur Arbeit oder zum Vergnügen ist weitgehend zum Stillstand gekommen. Und darin liegt nun die Chance, im Alltag bewusster, ruhiger und achtsamer zu werden.

Reflexion. Wir Menschen sind Wesen, die zur Reflexion befähigt sind. Zum Abstand nehmen, hinschauen, anschauen, nachdenken, analysieren, einordnen, verstehen und verändern. Genau dazu fordert uns das Corona-Virus auf. Es gilt täglich zurück zu schauen, kritisch und liebevoll zugleich. Kein Tag ist wie der andere. Die Bedrohung ist real und täglich sind wir aufgefordert unser Verhalten zu überprüfen und wo nötig anzupassen. Wir sind am Lernen. Wir sind in eine besondere Schule des Lebens eingetreten.

Selbsterkenntnis. Achtsamkeit und Reflexion sind wichtige Schritte auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Wer bin ich, was tue ich und wie tue ich es? Das sind Fragen, die an Bedeutung gewonnen haben. Die heute existenziell bedrohliche Situation fordert die Selbsterkenntnis heraus. Sie kann nicht in einem versiegelten Innenraum stattfinden. Selbsterkenntnis hat mit der Aussenwelt zu tun, mit Selbstausdruck. Wie zeige ich mich, wie agiere ich in der Welt. Der Philosoph Peter Bieri sagt es so: „Man betrachtet, was man gemacht hat und wie man es gemacht hat und sieht: So also bin ich auch.“

Weisheit. Das Virus zeigt: Wir wissen viel. Wir können viel. Und doch haben wir die Kontrolle verloren. Das Virus zeigt: Wir sind aus der Mitte gefallen. Dieser Organismus namens Erde, dieser wunderbare blaue Planet leidet, leidet am Menschen, der dem Machbarkeitswahn erlegen ist. Am Wahn, die Erde beherrschen zu müssen. Das Virus zeigt: Der Mensch ist sich selber fremd geworden. Wir brauchen dringend Weisheit. Weisheit ist nicht Beherrschung und Unterdrückung der Aussenwelt. Weisheit hat mit der Innenwelt zu tun. Weisheit ist ein Urwissen um das Wesen des Menschen. Dieses Urwissen überdauert die Zeit. Dieses Urwissen muss immer wieder neu entdeckt werden. Um dieses Wiederentdecken geht es jetzt!

Versöhnung. Wir sind aufgerufen, uns mit der Erde zu versöhnen. Das ist nur möglich, wenn wir aufhören, die Natur zu erobern und zu beherrschen anstatt auf sie einzugehen, mit ihr in Beziehung zu treten und in Beziehung zu sein, wie es die Legende von der Erstbesteigung des Mount Everst im Jahre 1953 besagt: Edmund Hilary habe auf dem Gipfel die Flagge des Eroberers in das Eis gesteckt. Dagegen habe sich sein Begleiter, der Sherpa Tensing, im Schnee niedergekniet und den Berg um Vergebung gebeten, dass sie seinen Frieden gestört hätten.