Rotondo

Sommer 2019. Zwischen Furka und Gotthard. Rotondohütte SAC. 25 Frauen und Männer gestalten während einer Woche gemeinsam ein künstlerisches Werk über der Baumgrenze. Eine heterogene Gruppe aus allen Himmelsrichtungen, beruflich und sozial. Das Verbindende: Berge, Freude am Experimentieren, Gemeinschaft. Die Materialien: Erde, Sand, Steine, Wasser, Schnee. Open process in landart an coummunity, heisst das Projekt. Eine selbstgewählte spielerische Herausforderung.

Frühling 2020. Open process in corona and solidarity. Kein Projekt. Eine Aufgabe. Unfreiwillig. Global. Eine Herausforderung für alle.

Open process. Wir lebten während einer Woche auf engstem Raum und wollten gemeinsam, Schritt für Schritt gestalten: Was wollen wir wo entstehen lassen? Und wir wollten in Gemeinschaft leben. No privacy. Vier Toiletten. Zwei Duschen. Zwei Waschräume für 50 Menschen. Es waren noch 25 Studenten auf der Hütte. Sie erforschten den Gletscher. Heute ist soziale Distanz angesagt. Viel Privatheit. Zurückgezogenheit. Virtuelle Gemeinschaft. Zoom hier und Skype dort. Und alle lernen wir, neu zu gehen: Schritt für Schritt. Kommt mir bekannt vor.

Kommunikation und Partizipation. Wir mussten permanent kommunizieren, artikulieren, fragen, nachfragen, diskutieren, uns verständigen, entscheiden, tun, reflektieren, modifizieren, weitergehen, unterstützen, aushalten, ertragen. Heute lebt der Bundesrat der ganzen Nation vor, was es heisst im eingeschränkten Rahmen des Notrechts zu kommunizieren und zu partizipieren, zum Beispiel mit den Kantonsregierungen. Und immer wieder hören wir: Das wissen wir. Das wissen wir nicht. Das probieren wir aus und zwar Schritt für Schritt. Etappe für Etappe. Open process. Das kommt mir bekannt vor.

Natur. Jeden Tag waren wir draussen. Stundenlang. Bei Sonnenschein. Im Nebel. In Regen und WInd. Selbstvergessen im Tun; flow genannt. Müde, hungrig und durstig kehrten wir jeweils zur Hütte zurück gekehrt. Dankbar für feines Essen und gute Gespräche.
Heute sitzen wir drin. Stundenlang. Bei schönstem Wetter. Es sei denn, wir haben einen Balkon oder einen Garten. Und alle zieht es nach draussen. Das kommt mir bekannt vor.

Körperkontakt. Immer wieder haben wir inne gehalten, einen Kreis gebildet, einander die Hände gereicht, sind für ein paar Minuten in die Stille gegangen und haben dann diskutiert, analysiert, reflektiert und dann weiter gemacht. Was erst fremd war, wurde zum festen Ritual. Wir waren eine kleine Schicksalsgemeinschaft, dort oben auf dem Berg. Das durfte auch konkret Ausdruck finden. Und immer wieder geschah es in der Folge, dass sich zwei spontan umarmten, tanzten oder juchzten, einander auf die Schultern klopften. Ausdruck purer Lebensfreude. Heute ist Abstand angesagt. Kein Händedruck. Kein Küsschen. Keine Umarmung. Eine Schicksalsgemeinschaft anderer Art. Wer jetzt als single lebt, übt sich in sozialem Fasten.

Stille. Oben auf dem Berg, in der grandiosen Gletscherlandschaft, da war es still. Und einige brauchten etwas Zeit, sich an die Stille zu gewöhnen. Doch bald liebten sie alle: die Stille. Und alle mochten am Abend den Wechsel zwischen dem heiteren Gespräch in der warmen Hütte und der Stille in der Kälte vor der Hütte unter dem Sternendach. Heute herrscht selbst im dicht besiedelten aargauischen Mittelland eine magische Stille, fast wie auf dem Berg.

Und ja: die Kraft – die Kraft kommt aus der Stille. Und der Sinn für das Wesentliche auch.