Shinrin-Yoku

Ich erinnere mich an meine Jugendzeit, Sonntagmorgen: Der Vater ging in den Wald. Die Mutter hörte die Radiopredigt und kochte danach. Die älteren Schwestern schliefen bis Mittag. Ich las Karl May und zum Mittagessen waren dann alle zusammen mehr oder weniger frisch am Tisch.

Ritual Waldspaziergang. Mein Vater, Heinrich Becker (1907-2000), Mühlebauer, Techniker, Erfinder, ging jeden Sonntag in den Wald. Jahrelang. Was ich damals nicht verstand, verstehe ich heute sehr gut. Der Wald, das war sein Rückzugs- und Kraftort. Das war ein Stück Eigenzeit umgeben von viel Fremdbestimmung. Immerhin waren wir fünf Kinder, die versorgt werden mussten. Es war offensichtlich, dass er das brauchte. Es tat ihm gut. Der Wald inspirierte ihn. Der Wald entspannte ihn. Es war sein Weg, sich eingebettet zu fühlen, in ein grösseres Ganzes.

Waldpraxis. Heute in diesen verrückten Corona-Zeiten gehe ich täglich, möglichst in den frühen Morgenstunden, in den Wald, wie mein Vater einst sonntags. Ich habe das Glück, nur wenige Gehminuten vom Wald entfernt zu wohnen. Und ich beginne zu verstehen, welche Kraft in einer täglichen Waldpraxis liegen kann. Mit Praxis meine ich, regelmässig, wach und auf bewusste Weise zu gehen: Allein oder zu zweit, mal kontemplativ, also ziellos, langsam, mäandernd, entspannt, staunend, sein. Mal kognitiv, also eher neugierig, im Sinne von: Welcher Vogel war das? Ist das eine Eibe? Mal sportlich, also zielgerichtet, eher schnell, unterbrochen von Yoga-Asanas im Stehen und, sitzend auf einem Baumstamm. Und immer ist es eine Bereicherung, ein tieferes Entdecken einer bekannten und gleichzeitig auch rätselhaften Welt.

Waldbaden. Damit bewege ich mich vermutlich in der Nähe dessen, was die Japaner Shinrin-Yoku nennen. Eben Waldbaden. Ein körperlich, seelisch und geistig nährender Aufenthalt im Wald. Relativ gefahrlos. Es lauern weder Tiger noch Bären. Gefährlich werden können auch hier, die Kleinlebewesen, die Zecken, genau so, wie die Kleinstwesen Viren, die in diesem zauberhaften Frühlingswetter viel individuellen Schmerz und viel Leid erzeugen und das globale Hamsterrad ins Stocken bringen.

Waldlektion. Und jetzt? Was ist mit dem Wald jenseits der Waldwirtschaft? Wir brauchen keine Shinrin-Yoku-Professur, wie in Japan. Wir brauchen auch kein Nationalfonds-Forschungsprojekt über die Heilwirkung des Waldes, falls denn jemand ein solches durchführen wollte. Es ist ganz einfach. Das Wesentliche ist immer einfach. Gehen wir in den Wald. Immer wieder. Tief einamtmen, die kühle Morgenluft. Ausatmen. Sein. Spüren. Erfahren. Wahrnehmen. Beobachten. Reflektieren. Ausprobieren. Der Wald wirkt. Er meint es gut mit uns. Er wirkt zu unserem Wohl, wenn wir denn dazu bereit sind: Der Blutdruck sinkt, das Immunsystem wird gestärkt, die Seele wird weit. Wir sind zufrieden. Wir sind.