Oh, mein Gott!

In der säkularen westlichen Gesellschaft ist kaum noch von Gott die Rede. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass geradezu eine Hemmung besteht, das Wort Gott auszusprechen. Da ist es für viele Menschen einfacher einander mit Namaste zu begrüssen, wie etwa in den Yogastudios. Namaste – ich grüsse das Göttliche in dir ist beinahe so etwas, wie Grüss Gott, das vor wenigen Jahrzehnten mindestens in ländlichen Regionen unseres Landes noch verbreitet war. Heute ist das exotisch. Etwas allerdings ist geblieben: In grosser Verzweiflung und in orgastischen Zuständen wird noch immer oh, mein Gott gestöhnt.

Kontrolle und Kontrollverlust. Beim Sex und in der Verzweiflung entgleitet uns die Kontrolle. Sonst haben wir alles im Griff. So tönt es immer wieder und so hätten wir es gerne. Doch es ist nicht so. Denn trotz aller Fortschritte von Naturwissenschaft und Technik, die uns fortlaufend etwas mehr Beherrschbarkeit der Welt ermöglichen, erleben wir immer wieder den zu tiefst verunsichernden Kontrollverlust in natur- oder menschengemachten Katastrophen, sei es ein Flugzeugabsturz, ein Terrorakt, ein Erdbeben oder eine Seuche, wie Corona. Dann öffnet sich aus dem Schrecken heraus ein Tor in einen sakralen Raum. Menschen halten dann inne, zünden Kerzen an, legen Blumen nieder und spüren einen Schauder radikaler Verletzlichkeit und einen Hauch des grossen Mysteriums, welches Leben heisst.

Gottesbilder. Im Erleben dieser Verletzlichkeit, im Realisieren, dass der Tod nicht nur Blaumeisen und Greise holt, liegt eine Chance, überholte Gottesbilder hinter sich zu lassen, sich neu oder erstmalig, dem Rätsel des Lebens vollständig zu öffnen und sich einzugestehen, dass wir mit unserem Denken allein zwar wissend, nicht aber weise werden können.

Jenseits der Worte. Wir wissen viel. Wir können viel. Wir haben manches im Griff. Und vieles haben wir ganz und gar nicht im Griff. Das erleben wir gerade. Wir brauchen also mehr Gleichmut, mehr Demut, mehr Dankbarkeit und mehr Weisheit. Wir brauchen den Mut und die Achtsamkeit, Gott, dem Göttlichen, dem grossen Mysterium jenseits der Worte, in unserem Leben, in unserer Kultur wieder mehr Raum zu geben. Mit den Worten von Gregor von Nyssa* heisst dieses grosse Rätsel dann so:

„Mit welchem Namen soll ich dich anrufen, der du über allen Namen bist? Du, der Über-Alles, welchen Namen soll ich dir geben? Welches Wort kann von dir sprechen? Kein Geist kann in dein Geheimnis eindringen, kein Verstand dich verstehen. Von dir geht alles Sprechen aus, aber du bist über aller Sprache. Von dir stammt alles Denken, aber du bist über allen Gedanken. Du bist beides: alles und nichts, nicht ein Teil, auch nicht das Ganze. Alle Namen werden dir gegeben und doch kann keiner dich fassen. Wie soll ich dich also nennen, du, der du über allen Namen bist?“

*lebte im 4. Jahrhundert, war Bischof von Nyssa**, Kirchenlehrer und Heiliger.
**heute Neveshir in Zentralanatolien/Türkei

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