Lockere Zügel

Da staunte ich nicht schlecht: Mit dem Velo auf dem Waldweg unterwegs, kam mir mitten im Weg eine Reiterin entgegen, beide Hände am Handy, Kopf gesenkt, die Zügel lose baumelnd. Was tun: Laut klingeln, weniger laut rufen, anhalten, in die Büsche fahren, wenden? Während Pferd und Reiterin ganz ruhig waren, galoppierte mein Geist durch ein Worst-Case-Szenario mit Toten und Verletzten. Noch bevor ich zum halblauten Rufen ansetzen konnte, hob die Reiterin den Kopf, erblickte mich und ging mit dem Pferd zur Seite. Die ganze Aufregung für nichts. No problem.

No problem? So ganz gefahrlos scheint mir die Situation auch aus distanzierter Betrachtung nicht gewesen zu sein. Wäre das Pferd durch das Klingeln erschreckt, mit unangenehmen Folgen für Ross, Reiterin und Velofahrer, so wäre ich wohl Verursacher und damit „schuld“ gewesen, so nach der Liedzeile in einem Song: Lass la bambele, Schuld sind immer die andere.

Ich staune immer wieder über das Verhalten meiner Mitmenschen, hoch zu Ross im Wald, im Strassenverkehr, beim Hantieren mit Fadenmäher und Laubbläser und bei vielen andern strapazierenden Gelegenheiten. Die unangenehmen Ereignisse versuche ich dann als Gelassenheitstraining anzusehen, was mir nicht immer gelingt. Zu meiner Entlastung sei jedoch erwähnt, dass kopfloses, intolerantes, egozentrisches und rücksichtsloses Handeln gar nicht so selten sind. So jedenfalls nehme ich es wahr. Und so mache ich mir Gedanken über die Gründe.

Ich nehme an, dass es etwas mit der Enge in Kopf, Herz und Raum zu tun hat. Die Polarisierung in Politik und Gesellschaft nimmt unübersehbar zu. Immer mehr Menschen leben im kleinen und mittlerweile multikulturellen und multireligiösen Schweizerland. Heute zählt die Schweiz doppelt so viele Einwohner, wie in meiner Kindheit und Jugend. Das hat Konsequenzen. Bestimmt tun wir gut daran, immer wieder das Herz zu öffnen, und gleichzeitig können wir nicht nur an die Toleranz appellieren, sondern müssen hin und wieder die Zügel straffer in die Hand nehmen. Das bedeutet, zu intervenieren, wo Grenzen überschritten werden. Das bedeutet, hinzuschauen, hinzuhören, zu reden miteinander, gescheite Lösungen auszuhandeln und sture Positionen zu überwinden.

Die handyzentrierte Reiterin mit lockeren Zügel ist in mehrfacher Hinsicht kein Vorbild.