Heinrich, mein Vater, 1907 geboren, ist 2000 gestorben, friedlich eingeschlafen. Er hatte einige Konstanten in seinem Leben. An zwei davon erinnere ich mich gerne: An den Wein und die Milch, Kuhmilch genauer gesagt. Zum Mittagessen trank er ein Glas Rotwein, 1 dl mehr nicht. Und abends trank er eine Tasse warme Milch, wahrscheinlich 2 dl. Heidi, eine meiner Schwestern, Heilpraktikerin und gesundheitsbewusst, fand das gar nicht schlau. Doch Heinrich fand es super. Er war der festen Überzeugung, dass Wein und Milch, mit Mass getrunken, nicht nur gut schmecke, sondern auch gesund sei.
Milch, das war in meiner Kinder- und Jugendzeit, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, zumindest auf dem Land, noch Rohmilch. Pasteurisierte Milch tranken die Städter. Doch heute sind wir so weit, dass nicht nur die Städter sich von der Kuhmilch abwenden und hinwenden zu den milchartigen Drinks aus Hafer, Reis und Soja. Was ist geschehen?
Wandel. Vieles ist geschehen. Die Schweiz von heute hat mehr als doppelt so viele Einwohner, wie damals. Die meisten von ihnen konsumieren Milchprodukte. Die Landwirtschaft von damals ist zur Hochleistungslandwirtschaft von heute geworden. Eine zwiespältige Entwicklung hat ihren Lauf genommen. Zwar ist genügend Milch vorhanden, für alle, die Milchprodukte wollen, doch zu welchem Preis? Futtermittel müssen im grossen Stil importiert werden. Krankheitsanfällige Kühe werden mit Antibiotika behandelt. Die Milchkuh als Nutztier wird heute zu einer Milchleistung hochgezüchtet, die das Leben der Tiere drastisch verkürzt und die Lebensqualität senkt. Die Euter sind grösser geworden, der Respekt kleiner.
Kühe sind Super-Nutztiere. In der Schweiz ist die durchschnittliche Milchleistung pro Kuh pro Jahr von 5’500 kg (1998) auf 7’000 kg (2018) gestiegen. Der Kuhbestand ist seit 2012 um 9% zurückgegangen auf 533’495 Milchkühe (2019). Weniger Kühe, mehr Leistung. Die Lebenserwartung dieser Kühe beträgt etwa 7 Jahre. Die natürliche Lebenserwartung von Kühen beträgt rund 22 Jahre.
Mehr. Schaut man über die schweizerische Milchkanne hinaus, dann wird es geradezu grotesk: Aktuell geben die israelischen Kühe rund 12’000 kg Milch pro Kuh pro Jahr. In Schweden, dem Spitzenreiter in der EU sind es 9’500 kg pro Kuh pro Jahr. Hochleistungskühe geben bis zu 100 l pro Tag, rund 30’000 l pro Jahr. Der Milchleistungs-Weltrekord steht bei 35’144 kg in 365 Tagen, gemessen in den USA.
Weniger. Heute ist das Zurück zum Weniger angesagt, nicht nur bei der Milchproduktion, aber auch dort: Ethisch vertretbar ist aus meiner Sicht der Kuh-Milchkonsum dann, wenn die Milchleistung bei rund 5’000 kg, wie vor rund 20 Jahren liegt und die Milchproduktion den biologischen oder biologisch-dynamischen Grundsätzen genügt. Damit bekommen die Kühe den Respekt und genau das zurück, was wir Menschen auch für uns wünschen: unverkürzte (natürliche) Lebenserwartung und Lebensqualität. Hochleistungskühe aber sind Ausdruck einer Tierzucht und Landwirtschaft, die den Respekt vor dem Tier verloren hat.
Preis. Jede faire und nachhaltige Wirtschaftsweise hat ihren Preis. Bei der Milch und anderen Produkten. Also sind wir Konsumenten gefragt. Welchen Preis sind wir bereit, dafür zu bezahlen? Sind wir darüber hinaus bereit, eine weitgehende Doppelmoral aufzugeben, die bedeutet, einerseits die Haustiere zu verwöhnen und andererseits die Nutztiere, wie Verbrauchsgegenstände also Sachen zu behandeln, obwohl der Status der Tiere im Gesetz geradezu lapidar lautet: Tiere sind keine Sachen (Art. 641a ZGB).