XXL

Erstfeld, Tunneleinfahrt: „IC 2 Bellinzona. Ankunft: 09.57. Weltrekord! Wir fahren nun während rund 20 Minuten durch den Gotthard-Basistunnel. Mit einer Länge von 57 Kilometern ist dies der längste Eisenbahntunnel der Welt. 10:26 Lugano.“

So die Anzeige im Zug auf der Fahrt nach Lugano am 31. Januar 2020. Es war ein sonniger milder Wintertag. Noch war die Welt in Ordnung – im Tessin, in der Schweiz, an vielen Orten. Heute, wenige Wochen später, sieht die Welt ganz anders aus. Wieder erleben wir milde und manchmal auch bisige sonnige Wintertage. Und wieder heisst es Weltrekord. Doch ist es ein anderer Rekord. Es ist das globalisierte Leben, das gerade zusammen kracht.

Virus. Ein Virus nimmt der Welt buchstäblich den Atem. Einer Welt, die schon vor dem Virus auf andere Art und Weise atemlos war. In einer Welt mit der Signatur: hochtourig drehend im Wahn von immer schneller, immer grösser, immer länger, immer besser, immer mehr: grössere Autos, gestyltere Villen, längere Tunnels, mehr Konsum, mehr Kilometer, mehr Flüge, mehr Schönheitsoperationen, grössere Reisen. Das Leben als ununterbrochene Party. Shoppen in Dubai über das Wochenende und zum Konzert nach Paris am Samstagabend. Das ist das seelentötende XXL-Virus, das sich vor dem Corona-Virus ausgebreitet hat. In Stadt und Land. Bei jung und alt. Dieses XXL-Virus ist überall: In der Wirtschaft, Landwirtschaft, Forstwirtschaft, im Ferien- und Freizeitverhalten, in der Kultur. Non-stop und grenzenlos. Sogar die Beigen der gefällten und aufgestapelten Bäume im Wald sind nun dreimal so hoch, wie vor fünfzig Jahren. Das ist nur möglich mit Maschinen, die grösser und grösser geworden sind. Maschinen, die mit ihren Dimensionen die Waldwege schleichend verbreitern. Maschinen, die mit noch mehr Tonnen Gewicht den Boden mehr und mehr verdichten.

Stillstand. Während diese Maschinen noch immer im Wald unterwegs sind, stehen viele Fahrzeuge still und sind nun Stehzeuge, genau so, wie die lauten Flugzeuge, die nun am Boden stehen. Nur die Milane schrauben sich in der Thermik des Mittags in den kondensstreifen freien Himmel hoch. Und die Menschen? Menschen sind krank. Menschen sind verängstigt. Menschen sind fatalistisch. Menschen sind gelassen. Menschen vertrauen den Behörden und Menschen wissen alles besser. Und die einen arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung und die andern sind zu Hause eingesperrt. Wer hat da noch was im Griff? Die Schulen sind geschlossen und die Angst ist gross. Die Virtualisierung breitet sich schnell aus, von der Videokonferenz über das Skype-Bewerbungsgespräch bis zur online-Meditation. Noch kann man auf Geschäftsreisen um die Welt verzichten. Doch die Wirtschaftsverbände erheben die Stimme und verlangen die Rückkehr zur Normalität, als ob es keine schwer erkrankten Menschen gäbe.

Milliarden. Und aus dem ganz gewöhnlichen Wahnsinn ist über Nacht ein ganz neuer Wahnsinn geworden, der Wahnsinn der Milliarden. So verständlich es ist, dass Unternehmen Unterstützung brauchen, so verständlich es ist, dass die Menschen, die nun auf einen Schlag beschäftigungs- und einkommenslos geworden sind Unterstützung benötigen, so paradox ist es, dass diese gleichen Milliarden nun ein schwer krankes Wirtschafts- und Finanzsystem System am Leben erhalten. Diese Milliarden wären erwünscht für den ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Eine Wirtschaft die konsequent in Kreisläufen denkt und produziert: cradle to cradle. Eine Wirtschaft, in welcher Konkurrenz und Kooperation in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Eine Wirtschaft, die wie jetzt in der Not, primär für die Menschen da ist. Keine Wirtschaft, in der die Menschen zuerst für die Wirtschaft da sind. Wirtschaft darf kein Selbstzweck sein.

Umkehr. Es wäre schön, wenn wir endlich begreifen würden. Begreifen, dass nach der Linderung von Not, die Umkehr kommen sollte. Die Umkehr, die den längst thematisierten Umbau der rasenden Wachstumsgesellschaft in eine Gesellschaft der materiellen Selbstbeschränkung einleitet. Diese ist leicht zu ertragen, wenn sie einhergeht mit der Verwesentlichung unseres Lebens, die zugleich eine geistige Ausdehnung ist. Dieser Umbau muss von unten, vom Individuum und gleichzeitig von oben, vom Kollektiv kommen. Und genau hier sind wir unglaublich stark heraus gefordert. Denn wir sind alle infiziert. Mehr oder weniger stark. Infiziert vom XXL-Virus: schneller, weiter, länger, besser, mehr.

Weltrekord. Ja, wir haben den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Und was nützt der uns jetzt? Ich habe das GA hinterlegt. Lugano ist jetzt keine Destination. Ich bleibe brav zu Hause. Und ich gebe es zu: Auch mich hat dieser Weltrekord begeistert und ich habe es allen erzählt, die es hören wollten: Von Lenzburg nach Lugano in zwei Stunden zwanzig! Und nur einmal umsteigen! Das ist der Hammer!

Ja, das war der Hammer.

Urs Becker (69), Jurist, Mediator SDM und Coach hat von 1997-2016 für insgesamt vier aargauische Regierungsräte Reden geschrieben. Jetzt backt er kleine Textbrote für alle, die sich interessieren: www.textbeckerei.ch

2 Comments

  1. Der Virus macht atemlos und Mutter Erde atmet auf … danke für das Reaktivieren deines Blogs und ich freue mich auf weitere Beiträge. Passt gut auf euch auf, du und Anja, und bleibt gesund! Herzliche Grüsse, Rosmarie

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