Saturdaynight

Es ist Samstagabend. Und es ist still. So still, wie es in den letzten 17 Jahren, seit ich hier wohne, noch nie war. Lenzburg, 4. April 2020, 19 Uhr. Vogelgezwitscher. Stille. Sonnenuntergang. Kein Autolärm. Kein Bahnlärm. Wunderbar. Kein subkutanes Saturdaynight-fever. Lockdown. Schreck und Zauber zugleich.

Sehnsucht. Zu Tausenden strömen sie sonst samstags um diese Zeit aus den aargauischen Tälern zur pulsierenden Ost-West-Verkehrs-Achse. Der Aargau als Durchfahrtskanton. S-Bahn. Autobahn. Hauptsache Bahn. Bahn frei. Hauptsache weg. Dorthin, wo das Leben pulsiert. Nach Zürich, Basel, Bern, vielleicht auch Aarau oder irgendwo. In den Club, ins Kino, ins Abenteuer oder auch nur zu McDonalds. Doch nicht nur die Jungen wollen feiern, suchen Spass und den ultimativen Kick in der non-stop Konsum-, Spass- und Verschleissgesellschaft. Alle wollen sie weg: fein Essen, ins Theater, in die Oper und irgendwo hin. Hauptsache weg. Ins Bordell, auch wenn sie es anders nennen. Ins Vergnügen. Und alle sind sie angetrieben von einer Unruhe, die Sehnsucht heisst, Sehnsucht nach dem intensiven Leben. Eine riesige Freizeitindustrie ist in den letzten Jahrzehnten so entstanden. Rundum Unterhaltung. Brot und Spiele bis zum Umfallen. Und mehr als 60 Prozent des gesamten Verkehrsvolumens in der Schweiz ist heute Freizeitverkehr.

Stillstand. Und jetzt steht diese gigantische Maschinerie still. Frust und Chance. Frust für diejenigen, die das Glück stets draussen suchen. An jenem Ort, wo sie gerade nicht sind. Wohltat für diejenigen, die schon lange unter dieser manischen Spassmaschine gelitten haben. Chance, neue Wege zu begehen für alle. Ein Waldspaziergang bei Sonnenuntergang. Ein Buch zur Hand nehmen. Tagebuch schreiben. Gitarre spielen. Auf dem Balkon sitzen. Noch nie sind an einem Samstagabend, in den vergangenen 17 Jahren, so viele Menschen an unserem Haus vorbei spaziert. Jung und Alt, Paare und Einzelpersonen, Familien, Freunde. Ruhig und friedlich die Stimmung. Bezaubernd das Abendrot. Und verborgen hinter dieser idyllischen Fassade viel Schmerz und Leid.

Stille. Stillstand als Zeiger auf die Stille. Auf die Kraft, die in der Stille liegt. Dort kann passieren, was der Benediktiner Anselm Grün so ausdrückt: „Das Trübe muss sich in der Stille setzen“. Aus dem Schlamm kann die Lotusblume entstehen. Wir können entdecken, dass ein gelingendes, kraftvolles, verantwortliches Leben im Alltag, im Aussen, sich nähren muss, aus der Gegenbewegung nach innen, in die Stille. Innehalten. Nach innen wenden. Immer wieder. Zur Ruhe kommen. Zufrieden sein. Dankbar sein für das, was ist – jetzt! Könnte es sein, dass wir einiges verlernt haben? Könnte es sein, dass wir anderes zu lernen haben, nichts Spektakuläres, sondern etwas ganz Elementares: den Blick auf das Wesentliche zu richten, inspiriert durch die Zeilen von Pierre Stutz www.pierrestutz.ch :

Sich zentrieren

Im wohltuenden Innehalten
die Mitte in sich entdecken
die immer schon auf uns wartet.

Im langsamen Gehen
mit staunendem Blick
die grossen Lebenswunder erkennen
die da sind als Wegbegleitung.

Im verweilenden Dasein
sich zentrieren
auf alles und nichts
auf Leere und Fülle.

Im achtsamen Wahrnehmen
einen neuen Durchblick erhalten
der erinnert an die befreiende Wirklichkeit
dass alles Wesentliche schon da ist.

One Comment

  1. Vera

    Lieber Urs!
    Textbrötli vom Becker direrkt sind wirklich fein! Ich mag deine Texte und Gedanken!

    Auch ich habe Ähnliches geschrieben, seit dem Tag da Corona unser Leben übernahm.
    Wenn wir uns wieder treffen dürfen: lade doch zu einem Textbröckli- Austausch- Vorlese Abend in deinen wunderbaren Lebensraum ein.
    Herzlich Vera

Comments are closed.